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GITTA
DONNERSTAG, DEN 5. OKTOBER
Im gedämpften Licht des Krankenzimmers saß ein älterer, grauhaariger Mann und hielt die Hand seiner Tochter. Bewegungslos hatte er seit gestern Abend dagesessen. Ein paar Male waren seine Augen zugefallen, aber schnell - mit Willenskraft - öffnete er sie wieder.
Morgens um halb vier starb seine 40-jährige Tochter. Ganz ruhig.
Er hörte, wie ihre angestrengten Atemzüge mit jedem Mal flacher wurden, und nach nur einer halben Minute hatten sie ganz aufgehört. Das war wahrscheinlich das, was man unter einem friedlichen Tod verstand.
Eine ältere Krankenschwester kam herbeigeeilt und schaltete das gelle Deckenlicht im Krankenzimmer ein. Sie warf einen routinierten Blick auf den Monitor über dem Bett, kontrollierte Atmung und Herzschlag, die zum Stillstand gekommen waren. Sie drückte die Klingel, um weiteres Personal herbeizurufen, begann aber umgehend selbst, die Patientin zu untersuchen.
Der hochgewachsene, grauhaarige Mann stand schwerfällig auf und ohne ein Wort zu sagen ging er langsam durch das Zimmer, auf den in nächtlicher Stille liegenden Krankenhausflur, die Treppe hinunter und trat auf den dunklen Parkplatz vor dem Krankenhaus. Zu dieser Zeit standen hier nur wenige Autos. Er ging zu seinem schwarzen Range Rover und schloss sich darin ein.
Er saß auf dem Fahrersitz und starrte in die Dunkelheit. Die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg aus den Augenwinkeln und rannen seine zerfurchten Wangen hinunter. Sie bahnten den Weg für den eigentlichen Zusammenbruch. Sein Gesicht verzog sich zu einer grotesken Grimmasse, er beugte sich über das Lenkrad und schluchzte laut und schmerzerfüllt in die schwarze Herbstnacht. Knud Emmanuel Tranedal weinte zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren. Das letzte Mal geschah es vor 40 Jahren, als seine geliebte Tochter Gitta auf die Welt kam und ihre Mutter kurz nach der Geburt starb.
Jetzt war Gitta auch tot.
*
Knud E. Tranedal, von seiner Familie, seinen Freunden und Angestellten nur Knud genannt, wurde im Alter von 34 Jahren Vater.
Viele Jahre hatte er als Junggeselle gelebt. Aber zur Überraschung vieler heiratete er zwei Jahre eher die nur 24-jährige deutsche Baronesse Elise von Löwenstein. Sie war die Tochter des Hauses auf dem Gut, wo Knud und einige seiner Freunde ab und zu zum Jagen eingeladen waren. Die blonde junge Frau und der charmante Mann von Welt waren direkt zueinander hingezogen, und nach drei Monaten heimlichen Treffen in verschiedenen europäischen Großstädten wurden sie vermählt. Zwei Jahre später gebar Elise ihr einziges Kind, die Tochter Birgitta, die immer nur Gitta genannt wurde. Das kleine Mädchen wurde von der damaligen Königinwitwe aus der Taufe gehoben und wurde zum Augenstern ihres Vaters. Elise versank nach ein paar Wochen in tiefsten Wochenbettdepressionen, und während Knud auf Geschäftsreise war, nahm sie eine Überdosis Tabletten, an der sie starb.
Es dauerte etliche Jahre, bis Knud über den Tod von Elise hinweg kam. Aber nicht zuletzt sein Pflichtgefühl gegenüber seiner Tochter trug dazu bei, dass er um Gitta Willen wieder am Leben teilnahm. Gitta wurde eine Vatertochter der ganz besonderen Art. Viele meinten, dass sie schon auf geschmacklose Art und Weise verwöhnt wurde, und da war durchaus etwas dran. Andererseits stellte Knud auch hohe Ansprüche an sie.
Die ersten Schuljahre verbrachte sie in der Haubjerger Volks- und Realschule, und sie entwickelte sich zu einem besonders anmutigen und begabten Mädchen. Wie viele andere Mädchen war Gitta in Pferde vernarrt und hatte Spaß am Reiten. Zu ihrem sechsten Geburtstag bekam sie ihr erstes Pony geschenkt.
In einigem Abstand vom Hauptgebäude des Tranedal Gutes hatte man ein altes Steingebäude mit weißgekalkten Fugen stehen gelassen. Hier ließ Knud die Reitanlage seines Gutes bauen, komplett mit Innen- und Außenbahnen für Dressur und Springreiten, umgeben von großen Weidearealen, damit die Reitpferde grasen konnten. Hier begann auch das weitverzweigte Reitwegenetz, das kilometerlang durch die weitläufigen Wälder und Wiesen lief, die zum Gut Tranedal gehörten.
Nach ein paar Jahren beschloss Knud, Gitta auf das Herlufsholmer Internat zu schicken, wo er selber zur Schule gegangen war und das nun auch für Mädchen geöffnet hatte. Mit Fleiß und nicht zuletzt auch durch ihre angeborene Intelligenz wurde sie Jahrgangsbeste auf ihrer Schule, von wo die Führungselite des Landes rekrutiert wurde. Nach dem Abitur schrieb sich Gitta auf ihres Vaters Rat in die Copenhagen Business School ein, wo sie in Rekordzeit Betriebswirtschaft studierte und mit hervorragenden Noten ihren Abschluss machte. Danach zog Gitta nach London, wo sie in einer internationalen Bank arbeitete. Sie verliebte sich in den Sohn des Chefs, aber nach einigen Jahren trennten sie sich und Gitte kam zwar sehr enttäuscht, aber um einiges klüger nach Gut Tranedal zurück.
Als 27-jährige – ein Jahr, nachdem ihr Vater 70 wurde – war sie bereit, in die Leitung des Gutes einzutreten. Knud war überglücklich. Jetzt war seine geliebte, verlorene Tochter zu ihm nach Hause zurückgekehrt. Und sie war auch zu ihrem Familienerbe zurückgekehrt, bereit, den ihr vorbestimmten Platz auf dem Gut einzunehmen. Er selber erfreute sich guter geistiger und körperlicher Gesundheit, aber es war an der Zeit, dass die Zukunft in das Gut einzog. Er erarbeitete einen Plan, wie seine Tochter nach und nach die Leitung des Gutes übernehmen würde. Er erwähnte Gitta gegenüber jedoch nie, dass sie auch dazu verpflichtet war, für einen Erben zu sorgen.
Die alte Verwalterwohnung wurde nach allen Regeln der Kunst für sie modernisiert und eingerichtet und sie begann, als verlängerter Arm ihres Vaters in der Bewirtschaftung des Gutes zu arbeiten. Knud übergab einen Leitungsbereich nach dem andern an seine Tochter, die nie einknickte, sondern sich ganz im Gegenteil schnell in die neuen Arbeitsfelder einarbeitete. Im Stillen freute Knud sich und sagte sich oft selber, was für eine fantastische Tochter er doch hatte. Am Anfang wunderte Knud sich über den Leitungsstil seiner Tochter. Er selber hatte die Geschicke des Gutes immer von seinem Büro im Hauptgebäude aus gelenkt, und es gab nur wenige Anlässe im Jahr, an denen er sich von Geschäfts wegen in Wald, Wiesen und Ställen blicken ließ. Viele seiner Angestellten kannten ihren Chef so gut wie gar nicht und sahen ihn nur zu Gelegenheiten wie am Weihnachts- und Erntefest, wo er sich für ihren Einsatz bedankte und ihnen zuprostete. Gitta hingegen richtete es ein, dass sie einmal in der Woche den Bürotrakt verließ, sich Gummistiefel anzog und zusammen mit den verschiedenen Verwaltern eine Runde durch die Ställe ging und mit ihnen das Gelände abschritt. Es war ganz klar ein anderer, modernerer Stil, aber ansonsten gab es nichts, was Knud an der Arbeit seiner Tochter aussetzen konnte. Er freute sich, dass der Generationswechsel reibungslos von Statten ging. Auf den nächsten Generationswechsel hatte er keinen Einfluss, und daher versuchte er, nicht darüber nachzudenken. Und jetzt war alles mit einem Schlag vorbei.
Vor einer Woche war Gitta zu einen ihrer routinemäßigen Ausritte durch das Gelände des Gutes aufgebrochen. Sie nahm ihr Lieblingspferd Cäsar, einen sechsjährigen Hengst, den sie selber eingeritten hatte.
Der Wald stand in den schönsten Herbstfarben, aber an diesem Freitagnachmittag regnete es in Strömen. An vielen Stellen hatten sich Pfützen von ansehnlicher Tiefe gebildet und viele Reitwege im hügeligen Gelände bestanden nur noch aus schmatzendem Schlamm. Obwohl Pferd und Reiterin routiniert waren und gut zusammenarbeiteten, geschah das Unglück an einer Stelle, wo sie schon oft zusammen unterwegs gewesen waren. Cäsar rutschte im Schlamm aus und stürzte. Gitta landete unter dem großen Tier, das sich panisch wieder auf die Beine kämpfte. Als Cäsar ohne Reiter auf den Hofplatz gelaufen kam, begann eine hektische Suche mit den drei Geländewagen des Gutes. Knud fand seine Tochter an dem Platz, wo sie gestürzt war - verdreckt, hilflos und mit einem offenen Oberschenkelbruch. Eine halbe Stunde später kam der Krankenwagen und Gitta wurde in das Haubjerger Krankenhaus eingeliefert, wo sie direkt in den OP gebracht wurde.
Die Orthopäden waren versiert, setzten den Oberschenkelknochen zusammen und fixierten den Bruch mit diversen silbernen Ersatzteilen und rostfreien Schrauben. Knud saß alleine im trostlosen Wartezimmer. Nach einer Stunde konnte der Chirurg ihm mitteilen, dass die Operation gut verlaufen war, Gitta immer noch halb in der Narkose lag und jetzt Ruhe und Schlaf brauchte.
„Komm morgen wieder“, wurde ihm gesagt.
*
Am Freitag nach Gittas Tod fand das Begräbnis in der kleinen Kapelle in einem Seitenflügel des Hauptgebäudes statt. Der kleine, barocke Raum war bis zum Bersten gefüllt und viele Gäste mussten während der Zeremonie draußen warten. Der Sarg wurde von Knud, mit einer so ausdruckslosen Mine wie eine Maske, und fünf hochrangigen Gutsmitarbeitern getragen. Die Trauergemeinde folgte dem Sarg in einer Prozession in ein entferntes Ende des Parks. Dort lag, geschützt im Halbkreis von alten Eichen, die Familiengrabstätte der Tranedals. Gitta wurde an der Seite ihrer Mutter beerdigt, die sie nie gekannt hatte. Beim nun folgenden Leichenschmaus in der Reithalle bemerkte man, dass Knud nicht anwesend war.
Am nächsten Montagmorgen fuhr er zum Krankenhaus, wo er einen Gesprächstermin beim Oberarzt hatte.
ETWAS ZUM NACHDENKEN
MONTAG, DER 16. OKTOBER
Knud Emmanuel Tranedal wurde 1942 geboren. Er hatte seinen Vater nie gesehen, der Hitler die Treue schwor und sich freiwillig dem dänischen Freikorps anschloss. Er kämpfte als Offizier auf deutscher Seite und fiel an der Ostfront.
Knud wuchs bei seiner anämischen Mutter auf, die ihn von Kindermädchen beaufsichtigen ließ, bis er alt genug war, ins Internat geschickt zu werden.
Knud war der Alleinerbe von Gut Tranedal, das 25 Kilometer vom nächsten größeren Ort Haubjerg entfernt lag. Zum Gut gehörten weitläufige Ländereien, darunter Wälder, Wiesen und Ackerland, sowie einige Mietwohnungen. Nysö Forst mit seinem See gehörte ebenfalls zu Tranedal. Zum Gut gehörten außerdem drei große Höfe, die von Verwaltern bewirtschaftet wurden, die direkt dem Gutsbesitzer unterstanden und ihm Rechenschaft abzulegen hatten. Auf allen drei Höfen gab es große Anlagen, auf denen jedes Jahr auf modernste Weise zehntausende von Schweinen produziert wurden. Auf dem vierten Hof - Gerdasminde- betrieb Knuds Verwalter eine Nerzfarm.
Zusätzlich zu seinen Ländereien besaß Knud Aktien in renommierten und lukrativen dänischen Firmen; manche davon gehörten entfernt zum Landwirtschaftssektor, andere eher zum Industriebereich. Er war im Vorstand von vieren dieser Firmen, in einer sogar als Vorsitzender. Sein größter Aktienposten befand sich jedoch im weltweit bekannten Pharmakonzern SanoDan.
Während seiner Gymnasialzeit in Herlufsholm hatte er viele Freundschaften geknüpft, und mit einigen seiner damaligen Schulkameraden hatte er bis heute Kontakt gehalten. Selbstverständlich gab es viele, die er nicht mehr so oft traf, aber viele nahmen an Tranedals legendären Jagden mit anschließender Gesellschaft teil, zu denen auch Mitglieder des Königshauses und andere Repräsentanten der wohlhabenden und einflussreichen dänischen Oberschicht kamen. In den Jahren, als Gitta vollauf damit beschäftigt war, heranzuwachsen und zur Schule zu gehen, war ihr Vater auch vollauf beschäftigt. Er hatte sich zum Vorstandsvorsitzenden des Branchenverbundes „Dänische Schweineproduzenten“ wählen lassen, und als solcher war auch Vize der mächtigen Landwirtschaftsorganisation, die man auf den ansprechenderen Namen "Frisch auf den Tisch" umbenannt hatte.
*
Tagsüber war der Parkplatz des Krankenhauses immer übervoll. Eigentlich sollten dort nur die Autos der Angestellten, Tagespatienten und Besucher Platz finden. Als man seinerzeit das Krankenhaus direkt hinter einer von Haubjergs Einkaufsstraßen gebaut hatte, konnte sich offenbar niemand vorstellen, dass er auch von Bürgern genutzt werden würde, die in anderen Angelegenheiten unterwegs waren. Und als das Krankenhaus vor ein paar Jahren weitläufig ausgebaut wurde, verschwanden rundherum noch ein paar hundert Parkplätze unter den neuen Gebäuden.
Daher parkte Knud seinen schwarzen Range Rover ein Stück weg im unterirdischen Parkhaus des Ortes und ging zu Fuß in der hellen Vormittagssonne zum Krankenhaus. Er war eindeutig ein älterer Herr, der durch die Stadt ging. Hochgewachsen, mit aufrechter Haltung, und einem festen Gang, der zu verstehen gab, dass hier ein Mann unterwegs war, der gewohnt war, dass andere für ihn den Weg räumten. Er trug eine in Deutschland genähte Lodenjacke und halbhohe Schnürschuhe, aber keinen Hut. Daher konnte man seine halblange, graugesprengte Haarpracht sehen, die trotz seines Alters füllig war - er hatte noch nicht einmal Geheimratsecken. Sein Gesicht mit dem kräftigen, gespaltenen Kinn war sorgfältig glattrasiert.
Der Arzt stand auf dem Flur, bereit, ihn zu empfangen. Mit einer Unterwürfigkeit, die für seinen Stand vollkommen untypisch war, wies er Knud in sein Büro, bevor er sich vorstellte:
„Jens Nielsen.“ Auf seinem Namensschild stand „Oberarzt“. Ihm war deutlich bewusst, wen er vor sich hatte. Während er sich leicht verbeugte, fragte er: „Eine Tasse Kaffee?“
„Nein, danke. Sie haben mich hergebeten? Was kann ich für Sie tun, Doktor Nielsen?"
„Tja… Wir dachten, es wäre das Beste, dass wir nochmal … über den tragischen Tod Ihrer Tochter… Wie geht es Ihnen, Herr Tranedal?“
„Vielen Dank für Ihr Interesse, aber darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Kommen Sie einfach zur Sache. Was möchten sie mit mir besprechen?“
Der Arzt errötete peinlich berührt und räusperte sich einige Male.
„Ja, also... Sehen Sie, Herr Tranedal, der Beinbruch Ihrer Tochter entstand natürlich durch gewaltige Krafteinwirkung, aber chirurgisch betrachtet war er nicht kompliziert, und die Operation verlief, wie man es in so einem Fall erwartet, nämlich ohne Komplikationen.“ Der Arzt schaute Knud in die Augen, bevor er fortfuhr: „Wie Sie wissen, wurde es ja erst ein paar Tage später kritisch. Die Wunde am Bein Ihrer Tochter hatte sich offenbar infiziert, und nach weiteren zwei Tagen hatte sich die Infektion zu einer Blutvergiftung entwickelt.“ Während der Ausführungen des Arztes saß Knud unbeweglich da und beobachtete den nervösen Arzt.
„Das weiß ich doch alles schon, Doktor. Kommen Sie zur Sache.“
„Wir haben Ihre Tochter mit den wirksamsten Antibiotika behandelt, die uns zur Verfügung stehen, Herr Tranedal, aber sie haben nicht geholfen!"
Wie als Bestätigung, dass ihm auch das schon klar war, seufzte Knud tief und warf einen demonstrativen Blick auf seine Rolex. Der Arzt befand sich jetzt auf sicherem Terrain und ließ sich von Knuds Verhalten nicht verunsichern. Mit fester Stimme fragte er:
„Sagt Ihnen MRSA CC398 etwas, Herr Tranedal?”
„Mein Betrieb züchtet über 200.000 Schweine pro Jahr, natürlich ist es mir ein Begriff!“ Auch Knuds Stimme war schärfer geworden.
„Und ihre Tochter ist täglich ihre Runde durch die Schweineställen gegangen?“
„Selbstverständlich.“
„Litt sie in der letzten Zeit unter Infektionskrankheiten?“
„Sie war wie gewöhnlich gesund und fit.“
„Nicht ganz. Wir haben festgestellt, dass sie in den letzten Wochen ein Breitbandantibiotikum wegen einer hartnäckigen Gebärmutterentzündung eingenommen hat. Hat sie Ihnen nicht davon erzählt?“
Nach kurzem Schweigen antwortete Knud in einem abfertigenden Ton:
„Über so etwas haben wir uns nicht unterhalten, Doktor Nielsen. Aber was hat das mit ihrem… also, ihrem Tod…“ Er sank kurz in sich zusammen. „… mit ihrem Tod zu tun? Man stirbt doch wohl nicht an einer Gebärmutterentzündung?“
„Nein, eigentlich nicht. Es sei denn, die Antibiotikakur hat die ganze gesunde Bakterienflora zerstört, die normalerweise eine Infektion auf Grund von MRSA CC398 gar nicht erst aufkommen lassen würde.
*
Nach dem Mittagessen ging Knud alleine zur Familiengrabstelle des Gutes, nur gefolgt von seinem alten, von Rheuma geplagten Labrador Lucky. Gittas Grab war mit Blumensträußen und Kränzen in Herbstfarben bedeckt. Er setzte sich auf die Steinbank und starrte ins Leere. Der Hund hatte sich müde neben ihn gelegt. Es war nicht auszuschließen, dass der Herbstwind Schuld war, als eine einzige Träne seine Wange herunter rann.
Man stelle sich vor, dass es nur eines banalen Reitunfalls bedarf, um alle seine Pläne zunichte zu machen! Der ganze Sinn seines Lebens hing von Gitta und ihrem Glück ab. Und jetzt lag sie da unten! Es war unerträglich.
MRSA CC398! Ob ihm der Begriff etwas sagte?! Natürlich wusste er davon. Das Urteil des Arztes war klar: Gitta starb wegen einer Infektion mit MRSA CC398. Die Methicillin-resistenten Staphylokokkenbakterien, die die wissenschaftliche Bezeichnung MRSA CC398 tragen, werden in der Öffentlichkeit - vielleicht ein wenig zu Unrecht – „Schweinebakterien“ genannt. Die MRSA - Bakterien kommen auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vor, wo man sie seit einem Menschenalter bekämpfte. Im Gegenzug breiteten sie sich nun vor allem in den meisten dänischen Schweineställen aus. Die Laboruntersuchungen des Krankenhauses hatten bestätigt, dass die Bakterien, die Gitta umgebracht hatten, aus einem der Schweineställe von Gut Tranedal stammten, die von ihr verwaltet wurden.
Knud ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen.
Als Vorsitzender der dänischen Schweineproduzenten hatte er sich viele Gegner geschaffen, wenn nicht sogar direkte Feinde. Über viele Jahre hinweg war er für die Öffentlichkeit der Inbegriff für die rücksichtsloseste und kurzsichtigste Interessenvertretung wahrgenommen, die es im Land gab. Mit halben und dreiviertel Wahrheiten und rhetorischen Finessen hatte er für die Interessen seines Standes gekämpft. Er wurde regelmäßig zu Interviews in Fernsehen, Radio und Presse eingeladen, in der er seine aggressive, populistische Art zu debattieren auslebte und seine Gesprächspartner mit Lügen und Bulldozertechniken überfuhr. Als einer der größten Schweinezüchter des Landes stand er oft mitten in der Schusslinie. Viele erinnerten sich selbst nach vielen Jahren noch an seinen Auftritt in einer Fernsehsendung, in der er Umweltschützer und Wissenschaftler verhöhnte und lächerlich machte, die vor den Gefahren von MRSA warnten. Sie glaubten, dass die Antibiotikabehandlung eine tickende Zeitbombe, nicht nur im Land, sondern in der ganzen Welt war. Er beendete die Debatte mit einer arroganten Bemerkung, dass er es besser wüsste als diese links-intellektuellen Studenten und Politiken-Leser, und verließ wütend das Studio.
In diesen Jahren wurde immer mehr Mitbürgern klar, dass die existierende Landwirtschaft von dem, was sie in der Schule gelernt hatten, ziemlich weit entfernt war. Während sich der Anteil der Landwirtschaft am dänischen Bruttosozialprodukt ständig verringerte, ging dieser Erwerbszweig zu rein industriellen Methoden über. Die Landwirte (jetzt war es nicht mehr fein genug, sich Bauer zu nennen) benannten ihre Haustiere zu Produktionseinheiten um und behandelten sie auch als solche. Von industriell bestellten Äckern wurden Gülle und Giftstoffe in Seen, Flüsse und Fjorde gespült. Tierschutz wurde ein Fremdwort. Die Landwirtschaft führte sich auf, als ob ihnen das ganze Land gehören würde und sie selbst für die banalsten und natürlichen Eingriffe finanziell entlohnt werden sollten. Im Großen und Ganzen vermittelten die Bauern den Eindruck, die gierigste und rücksichtsloseste Berufsgruppe Dänemarks zu sein. Teufel nochmal! Es konnte doch nicht wahr sein, dass Naturschützer, Müsli-Ökos und abgedankte Hippies Recht hatten? Jetzt war er doch selbst jahrelang Schweinezüchter gewesen und war kaum einen Tag krank gewesen! Sollten seine eigene Überheblichkeit und Lobbyismus wirklich dazu beigetragen haben, dass seine geliebte Tochter viel zu früh gestorben war? Er konnte es einfach nicht glauben! In Knuds Kopf drehten sich verwirrende Gedanken im Kreis, als er in der Abenddämmerung nach Hause ging